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Farbe hören, Musik sehen – wie eine Kunststunde nach Jahren wieder aufleuchtete

Heute hat mich die Kunst beschäftigt.

Ich male manchmal ganz gern und wenn ich ein Kunstwerk betrachte und genügend Ruhe und Zeit dafür habe, kann ich mich schon einmal darin verlieren. Aber heute ging es nicht um ein Kunstwerk, sondern um Kunststile. Also um das, was man vielleicht im Kunstunterricht mal irgendwann gehört hat, aber dann wieder vergessen hat – man brauchte es halt nicht im Alltag. Und doch hat mich dieser Beitrag gefesselt, denn ich erinnerte mich tatsächlich an eine Kunststunde in der elften oder zwölften Klasse.

Der Artikel berichtete über den „Orphismus“– noch nie gehört? Dachte ich auch. Aber dann klingelte etwas.

 

Was ist also der Orphismus überhaupt?

Guillaume Apollinaire, ein französischer Dichter und Kunstkritiker der Avantgarde, spielte bei der Definition und Förderung des Orphismus eine entscheidende Rolle. Ihm ging es darum, Kunstrichtungen zu benennen und zu fördern, die sich vom rein Gegenständlichen entfernten, ohne sich vollständig in abstrakter Geometrie aufzulösen. Seine Inspiration dazu fand er in den Bildern von Robert Delaunay im Jahr 1912. Einige seiner Werke (z. B. Fenêtres simultanées – Simultane Fenster) zeigten eine völlig neue Malweise. Die Formen und Konturen standen hier im Hintergrund, es ging rein um die Wirkung der Farben. Die Farben „klangen“ und „vibrierten“ – Apollinaire erkannte hierin eine synästhetische Qualität, die ihn an Orpheus erinnerte. Orpheus wiederum war ein Sänger der griechischen Mythologie, der Musik, Poesie und Magie vereinte. Deshalb benannte er diesen Stil als „Orphismus“, eine besonders lyrische, farbbetonte Variante des Kubismus. Der Fokus im Orphismus liegt also auf Farbe und Bewegung, im Gegensatz zur Strenge des Kubismus.

 

Und was ist Kubismus?

Picasso und Braque sind bekannte Vertreter des Kubismus. Es ist eine Kunstrichtung der Moderne, die um 1907 in Paris entstand. Im Kubismus sollte die traditionelle, perspektivische Darstellung der Welt aufgebrochen werden. Im Kubismus werden die Gegenstände „zerlegt“ und in Formen wie Würfeln (lat. Cubus), Kegeln oder Zylindern dargestellt. Es ging hier nicht um das realistische Abbild, sondern um die gleichzeitige Sicht aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Motive wurden quasi in Facetten aufgespalten und wollten den Eindruck von Raum und Zeit auf neue Weise erfahrbar machen. Ein radikaler Bruch mit der traditionellen Malweise und eine wichtige Startrampe für zukünftige abstrakte Kunstformen wie den Orphismus.

Spannend ist dabei, dass sogar mathematische Theorien Eingang in die Kunst fanden – etwa durch Maurice Princet, der als eine Art heimlicher Vordenker des Kubismus gilt. Er wird auch der „Mathematiker des Kubismus“ genannt und hatte bedeutenden Einfluss auf die Bewegung. Er verkehrte in der Gruppe um Pablo Picasso und hielt informelle Vorträge über Mathematik. Princet hatte das Talent, komplexe mathematische Ideen und Begriffe zu übersetzen, die die Künstler verstanden. So machte er im Jahr 1903 Picasso mit vierdimensionalen geometrischen Konzepten bekannt – der Beginn einer tiefgreifenden Veränderung der Werke Picassos und der weiterführenden Entwicklung des Kubismus. Diese mathematischen Konzepte inspirierten die Künstler dazu, Motive gleichzeitig aus mehreren Blickwinkeln darzustellen. So wurde die traditionelle lineare Perspektive überwunden.

Mathematik und Kunst fanden zusammen, wer hätte das gedacht.

 

Nach diesem kurzen theoretischen Ausflug komme ich wieder zurück zu meiner Kunststunde in der 11. Klasse.

Unser Kunstlehrer, liebevoll „Blumen-W….ers“ genannt, weil er sich um jede noch so verkümmerte Topfpflanze in unseren Klassenzimmern sorgte („das könnt ihr doch nicht machen, die so verkommen lassen, die ist ja schon total vertrocknet, wer von euch hat denn Blumendienst?!“), war auch im Kunstunterricht gern etwas unkonventionell. In der besagten Stunde kam er mit einer Aufgabe zu uns, die so unkonventionell und einprägsam war, dass ich sie heute, einige Jahrzehnte später, immer noch genau vor mir sehe. Er hatte einen Kassettenrekorder mitgebracht. Wir sollten unsere Malunterlagen herausnehmen. Die Aufgabe lautete: „Hört der abgespielten Musik zu und malt, was euch in den Sinn kommt. Nutzt dazu Formen, Farben, Wellen, Striche, Kleckse, was immer euch in den Sinn kommt. Keine ausgeformten Gegenstände, sondern fließt einfach mit der Musik mit und lasst eure Hände mitlaufen. Nehmt für jedes Musikstück ein neues Blatt.“

Er spielte Stücke von den Beatles sowie Klassik und aktuellen Pop. Nicht jeder von uns konnte sich sofort voll einlassen – einige fanden es albern und krakelten einfach etwas vor sich hin. Sie blieben im Kopf und so kam der „Flow“ nicht zustande. Doch die, die in die Gefühle eintauchen konnten, waren überrascht, was da auf den Bildern Interessantes zutage kam.

Doch es war für jeden von uns eine wichtige Erfahrung, wie Kreativität sein und gelebt werden kann.

 

Ohne es zu wissen, haben wir die synästhetischen Qualitäten des Orphismus ausprobiert, indem wir Musik, wie wir sie wahrnahmen, in Formen und Farben auf das Papier brachten.

Vielleicht hat unser Lehrer „Blumen-W…ers“ es damals erwähnt, doch wirklich begriffen habe ich es erst heute, viele Jahre später.

Ich würde ihm gern davon erzählen, doch leider habe ich keinen Kontakt mehr.

 

Hast du auch schon einmal deine eigene Kreativität in unkonventionellen Wegen ausprobiert – ungeachtet dessen, was dabei herauskommt? Ohne Ziel, ohne Absicht, es einfach herauslaufen lassen?

 

Wenn du dich traust, probiere es aus.

Folge deinem ganz eigenen Weg.

 

Das sagte auch Robert Delaunay in zwei seiner Zitate:

„Malerei muss ein Abenteuer sein.“, und

 

„Ich bin nicht den Meistern gefolgt, ich bin dem Licht gefolgt.“

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