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Im Schatten der Sichtbarkeit

Gerade habe ich einen Artikel gelesen über die Mutter von Gene Simmons.

 

Gene – eigentlich Chaim – gründete die Rockband KISS. Seine Mutter, die ungarische Jüdin Flora Klein, hat es damals geschafft, das KZ in Mauthausen zu überleben. Sie heiratete später und wurde die Mutter von Chaim (Gene), ihrem einzigen Sohn. Eine kleine Randnotiz des Beitrags, die ihr damals vermutlich das Leben rettete, ließ meine Gedanken jedoch etwas weiter schweifen.  

 

Die Frau eines Kommandanten fragte eines Tages mehrere Mädchen: „Wer spricht deutsch?“

Einige meldeten sich – vermutlich in der Hoffnung, aus der Misere entkommen zu können. Doch sie wurden stattdessen von der SS mitgenommen und kehrten nie wieder zurück.

Flora verstand zwar ein wenig deutsch, hatte sich aber nicht gemeldet. Und so überlebte sie.

 

Flora hatte als 12-jähriges Mädchen bei einem Friseur gelernt. Da sie augenscheinlich kein Deutsch verstand, war sie für die Frau des Kommandanten eine gute Wahl: Sie konnte die Haare der Damen richten, aber verstand nicht, worüber sich die Damen währenddessen unterhielten. Und so bekam sie diesen Job und schaffte es schließlich durch die schlimme Zeit. 

 

Diese Geschichte ist schmerzhaft und soll keinesfalls verharmlosen, was damals geschah – sie zeigt vielmehr, wie tief Erfahrungen von Gefahr und Anpassung in uns Menschen wirken können.

Flora hatte instinktiv gelernt, dass Sichtbarkeit gefährlich ist. Unsichtbar zu bleiben bedeutete, zu überleben.

 

Und an diesem Punkt begannen sich in meinem Kopf auf einmal Fäden zu Themen unserer heutigen Zeit zu spannen.

 

Ich lese heute in Social Media immer wieder Kurs- und Coachingangebote für Selbstständige im Online-Business: „Wie kommst du in die Sichtbarkeit?“ oder „Online sichtbar werden“ oder „Positionierung und Branding“. Man wird geradezu überschwemmt mit diesen Angeboten (gib es einfach mal einfach bei Google und schau, was da alles kommt). Wenn also die Sichtbarkeit bei so vielen Menschen kein Problem wäre, gäbe es nicht so einen riesigen Markt dazu – die Nachfrage bestimmt das Angebot. Einfache Gesetze des Marktes.

 

Tiefsitzende Ängste können über Generationen weitergegeben werden. Wir lernen von unseren Eltern und Großeltern subtil durch Gesten, Handlungen, wie sie Dinge angehen, welche Glaubenssätze sie immer wieder von sich geben. Das geschieht ganz automatisch, denn wir sind, wer wir sind – mit all unseren Erfahrungen und Erlebnissen.

 

Wenn ein Eltern- oder Großelternteil diese Erfahrungen gemacht hat und an uns unbewusst weitergegeben hat, was hilft dann ein Kurs, der mir zeigt, wie ich meine Marke richtig auf Instagram & Co. platziere? Was bringen mir diese Business-Schritte und Mindsets (die im Kopf stattfinden), wenn ich es tief in mir nicht fühlen kann, dass ich mich sicher und selbstbewusst nach außen zeigen kann und ich dabei unversehrt bleibe? Wenn stattdessen trotzdem dieses seltsame Gefühl bleibt, dass es für mein Leben sicherer ist, wenn ich in Deckung bleibe? Kratzen wir dann nicht nur an der Oberfläche – oder malen bunte Farben über den Rost?

 

Wenn wir den vorgeschlagenen Plänen und Kursen folgen, tun wir vielleicht etwas, was wir nicht wirklich fühlen (können). Denn unter der Maskerade bleibt unser dumpfes Gefühl der Angst.

 

Und es wird vermutlich deswegen auch nicht funktionieren. Denn die Kunden fühlen, wenn etwas nicht echt ist. Wenn es nicht von innen kommt oder der eigenen Überzeugung entspricht.

 

Vielleicht sollten wir uns fragen, ob das tatsächlich der richtige Ansatz ist.

 

Diese Generationen-Wunden heilen nicht, wenn wir mit blindem Aktionismus vorgegebenen Plänen folgen, um unser Geschäft nach vorn zu bringen – solange wir uns nicht wirklich sicher fühlen, uns so zu zeigen, wie wir sind.

 

Vielleicht ist es also einen Blick wert, mal in die eigene Familiengeschichte etwas tiefer einzutauchen. Wie haben deine Großeltern und Eltern gelebt? Mit welchen Schwierigkeiten hatten sie zu kämpfen? Wie war ihr Umfeld, ihre Nachbarschaft? Was war damals wichtig? Gab es Dinge, die versteckt oder zurückgehalten werden mussten, weil es um die eigene Existenz, um Gemeinschaftszugehörigkeit oder um die eigene Würde ging? 

 

Und die wichtigste Frage für dich: Trägst du noch etwas davon?

 

Falls du das ausprobiert hast und hier mit „ja“ antworten kannst, musst du nicht nervös werden – denn mehr als die Hälfte der Arbeit ist schon getan. Du hast deine und eure Geschichte angeschaut und sie in die Sichtbarkeit gebracht. Und dann kannst du mit deinem Leben folgen und die Dinge anders angehen – denn du hast die Ursache erkannt.

Das Monster unter dem Bett ist hervorgeholt und wenn die Lampe angeknipst ist, ist es oft nur ein weißes Bettlaken.

 

 

Alles in der Welt will nur gesehen werden. Dann heilt von ganz allein.

 

 

(Bildquelle: Bilder erstellt mit Canva)

 

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