
„Warum ein Altersheim wählen, wenn man sich stattdessen auf einem Kreuzfahrtschiff einbuchen kann? Da gibt es alles, was man braucht!“ – Diesen Witz kennt natürlich inzwischen fast jeder. Und wenn man ehrlich ist, klingt er gar nicht so abwegig: Unsere Altersheime sind oft recht teuer, während Kreuzfahrtschiffe eine vergleichbare Versorgung bieten – manchmal sogar günstiger. Ein warmes Bett, Gesellschaft, medizinische Versorgung, gute Verpflegung und Unterhaltung – was braucht man mehr?
Dieser humorvolle Gedanke hat leider in Japan eine tragische Realität gefunden. Dort ist es nicht das Kreuzfahrtschiff, sondern das Gefängnis, das für viele ältere Frauen zu einem Zufluchtsort wird.
Japan, bekannt für seine alternde Gesellschaft, hat mit einem gravierenden Problem zu kämpfen. Fast 20 % der Menschen ab 65 Jahren leben dort in Armut – weit über dem OECD-Durchschnitt von 14,2 %. Viele dieser Menschen kämpfen tagtäglich darum, sich Lebensmittel oder medizinische Versorgung leisten zu können. Dazu kommen Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit.
Besonders für alleinstehende Frauen verschärft sich die Lage. Ohne familiäre Unterstützung und mit geringen Renten bleibt vielen nur ein Leben in Isolation und Entbehrung.
Im Tochigi-Frauengefängnis, Japans größter Einrichtung für weibliche Insassen, ist seit Anfang der 2000er-Jahre ein Trend zu beobachten. Laut Berichten von CNN hat sich die Zahl der weiblichen Gefangenen in Japan im Alter von 65 Jahren oder älter von 2003 bis 2022 fast vervierfacht. Viele der Frauen begehen kleine Straftaten, wie z. B. Ladendiebstähle, um ins Gefängnis zu gelangen. Warum? Weil sie dort finden, was ihnen außerhalb der Mauern verwehrt bleibt:
- Ein Dach über dem Kopf.
- Regelmäßige Mahlzeiten.
- Medizinische Versorgung.
- Gemeinschaft und menschlicher Kontakt.
Einige Insassinnen wären sogar bereit, monatlich einen Geldbetrag zu zahlen, damit sie dauerhaft im Gefängnis bleiben können.
Wie hart müssen die Umstände außerhalb der Mauern für sie sein, solch einen Schritt gehen zu wollen?
Einige Berichte von alleinlebenden Senioren in Japan werfen ein kleines Licht auf ihre Lebensumstände. Sie erzählen, dass sie vollständig isoliert von der Gesellschaft leben, dass die eigene Familie sie nicht unterstützt, dass sie so gut wie keine Verbindungen zu Gemeinschaften haben und sich unsichtbar fühlen. Dazu fehlt das Geld, um sich das Nötigste kaufen zu können.
Das Gefängnis bietet ihnen zumindest das, wonach sich jeder Mensch sehnt: Sicherheit, Gemeinschaft und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Wie verzweifelt müssen diese Frauen sein, dafür freiwillig hinter Gitter gehen zu wollen?
Mich hat dieser Bericht ein wenig über unsere Gesellschaft nachdenken lassen, denn diese Fragen gehen meiner Meinung nach weit über die Grenzen Japans hinaus. Es geht um grundlegende Fragen über den Wert älterer Menschen in modernen Gesellschaften.
Früher galten ältere Menschen als die „Weisen“, sie wurden hoch geschätzt, respektiert und geehrt. Sie waren die Hüter von Wissen, Traditionen und kulturellem Erbe.
Was ist der Sinn dahinter, dass die Produktivität, DAS Schlagwort unserer aktuellen Gesellschaft, diese tiefgreifenden Werte achtlos beiseiteschieben kann?
Ich sehe durchaus die strukturellen Probleme, die Demografie und auch die wirtschaftlichen Zwänge, die dazu geführt haben könnten. Und doch ist diese Missachtung in meinen Augen traurig und respektlos.
Die älteren Generationen haben uns unser heutiges Leben überhaupt erst möglich gemacht. Sie haben uns auf diese Welt gebracht, haben uns erzogen, uns ein bequemes Dasein geschaffen und uns gezeigt, wie man schwierige Zeiten übersteht.
Die Angst, allein zu sein, ist eine der tiefsten menschlichen Ängste. Und das ist das „Geschenk“, das sie von der Gesellschaft nach ihrem langen Leben bekommen.
Sie verdienen mehr als Einsamkeit und Armut.
Ja, natürlich kann man jetzt nach der Politik schreien – sie muss Lösungen finden, die Schwächsten der Gesellschaft schützen. Es braucht umfassende soziale Programme, die nicht nur finanzielle Unterstützung bieten, sondern auch emotionale und soziale Bedürfnisse berücksichtigen. Alles richtig.
Aber das funktioniert langfristig leider nur, wenn jeder von uns beginnt, in seinem Kopf einen Hebel umzulegen.
Es ist Zeit, wieder zu erkennen, was für einen Schatz unsere älteren Mitmenschen für uns darstellen. Denn sie sind:
- Hüter wertvoller Erinnerungen.
- Lehrer durch gelebte Erfahrung.
- Mentoren für jüngere Generationen.
- Zeugen historischer Ereignisse.
- Erzähler unvergesslicher Geschichten.
- Lebende Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft.
- Unsere ganz persönlichen Ratgeber und Ansprechpartner.
- Ein Teil von uns.
- Und unsere Familie.
Schau doch mal, wie gehst du mit deinen Großeltern um? Besuchst du sie, hörst du ihnen zu?
Wie behandelst du einen fremden älteren Menschen im Alltag – sei es die Dame an der Supermarktkasse, die etwas länger braucht, um ihre Münzen aus ihrem Portemonnaie zu suchen oder der Rentner, der im Bus langsam seinen Platz einnimmt?
Was denkst du?
Was tust du?
Vielleicht lohnt es sich, sich dabei einmal zu beobachten.
Denn irgendwann später sind wir vielleicht selbst in ihrer Situation.
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